Der lange Weg zur Zeichnung und die innere Konsequenz der leisen Brüche Jens Hoffmann über Reiner Schwarz Vieles kann man schnell erkennen: einen Stuhl, eine Schubkarre, den Leimtopf, das Auto. Manche Werkzeuge, Früchte, kopflose Schaukelpferde nicht ganz so schnell. Doch was ihnen gemein ist, wird erst danach klar: Sie sind gezeichnet, mit Kohle und Farbstiften, weiß gehöht, auf Papier." Zeichnen heißt, von vornherein den Entschluß fassen, sich weitgehend vom Naturanblick loszusagen, Zeichnung heißt von der Natur ,abstrahieren." (1) Strichmännchen und Häuser vom Nikolaus. Es ist die Linie, die das Wesen einer Zeichnung ausmacht. Die Form des Objekts als Umrißlinie oder seine Oberfläche oder auch das Volumen durch Binnenzeichnung beschreibend, zwingt die Linie zur Abstraktion. Doch kaum eine Spur derartiger Abstraktion, keine derartigen Linien in den Zeichnungen von Reiner Schwarz. Diese gezeichneten Bilder verlangen, auch als Zeichnung befragt zu werden, das Verständnis von Zeichnung aus ihrer Sicht zu überdenken und ihr Verhältnis zum Begriff "Zeichnung" zu klären. Der Griff zu Zettel und Stift, zu einem Blatt Papier und einem Bleistift, ist in der Regel die schnellste Möglichkeit, eine Idee bild- oder zeichenhaft festzuhalten. Papier löst am Ende des 14. Jahrhunderts das bis dahin gebräuchlichere Pergament ab, ermöglicht eine größere Verbreitung der Zeichnung, und die eher kleineren Formate erleichtern deren Handhabung. Die Zeichnung (die Künstlerzeichnung, im Gegensatz zur Planskizze, technischen Zeichnung u.ä.) wird deshalb oft als "die freieste und persönlichste aller Künste " (2) gesehen, in ihr kann man die Handschrift des Künstlers am ehesten erkennen. So sind diese Zeichnungen meist sehr spontan und locker, ihre Striche sind suchend, die Linien erfassen das Gemeinte meist im Umriß oder deuten ihn zumindest knapp an. Bewundernswert ist oft die Leichtigkeit, mit der diese Zeichnungen entstanden zu sein scheinen, ein einzelner Strich kann begeistern und eine gesamte Zeichnung tragen. Zügiges festhalten einer Idee, um sie anschließend weiterzuentwickeln, ist das klassische Metier der Künstlerzeichnung, deren künstlerischen oder dokumentarischen Wert man vor allem in der italienischen Renaissance zu würdigen begann. Das Dargestellte ist in diesem Moment noch zweitrangig, es wird erst in der Folge ausgearbeitet, zumeist mit Hilfe weiterer Zeichnungen, wie Detail- oder Kompositionsstudien. Abstrakte oder ganz nicht-gegenständliche Zeichnungen bieten dem Betrachter zunächst gar nur Punkte, Linien und Flächen, also die elementaren zeichnerischen Darstellungsmittel. Deshalb ginge es "eben bei einer Zeichnung am allerwenigsten um das Was, sondern einfach immer um das Wie." (3) Das gilt sicher für eben solche "Vor-" Zeichnungen, das heißt für Zeichnungen, die als Teil eines größeren Ganzen den Weg von der ersten Idee bis zum Gemälde, zur Skulptur, zur Architektur oder zur Druckgraphik beschreiben, in keinem Fall aber selbst bereits Ziel, endgültiges Kunstwerk sein wollen. Als womöglich älteste (man denke an die geritzten Umrißzeichnungen steinzeitlicher Höhlenwände) der künstlerischen Ausdrucksformen befreite sich die Zeichnung als letzte erst im 19. Jahrhundert von ihrer weithin "untergeordneten, zweckgebundenen Funktion " (4), um auch als autonomes Kunstwerk anerkannt zu werden und also als "jüngste" selbständige (klassische) Kunstgattung zu gelten. Und natürlich verlangen auch die autonomen Zeichnungen die Frage nach dem "Wie", so sehr ihr Realismus, wie bei den vorliegenden, von der Technik abzulenken vermag und so schnell man sich auch in der Welt des vermeintlich Bekannten befindet, in der man sich einer Stellungnahme nicht (so leicht) entziehen kann. Das bildhafte Angebot lädt eben so zu einer inhaltlichen Diskussion, wenigstens zu einer Reaktion, ein, die der zusätzlichen Betrachtung der Form nicht notwendigerweise zu bedürfen scheint, "man sieht ja, worum es geht". Die Zeichnungen von Reiner Schwarz sind groß, dicht, konzentriert. Beschreibende Linien sucht man vergebens. Es gibt keine Schraffuren und keine Verwischungen, die zu vermeiden bei der verwendeten Kohle höchste Aufmerksamkeit und häufiges Fixieren erfordert. Schwarz verlangsamt das eher schnelle Medium, und seine Zeichnungen sind zuallerletzt spontan. Sie stehen am Ende eines konsequenten Schaffensprozesses, dessen Voraussetzung das Erkennen des Objekts als dialog- und die Idee transportierfähig ist. Statt der Vorzeichnungen bedient sich Reiner Schwarz der Photographie, die ihm zwar eventuelle Detailstudien ersparen mag, dafür aber bereits "seinen" Blick auf das Objekt weitestgehend eingefangen haben muß. Die traditionellste Aufgabe der Künstlerzeichnung wird so vollständig ersetzt, die Zeichnung selbst erscheint erst am Ende des Prozesses, wird vom Weg- bereiter zum Hauptdarsteller. Mit kurzen, ohne Anfang und Ende ineinander übergehenden Strichen, führt Reiner Schwarz ein in die innere Struktur seiner Zeichnung. Dieses Netz aus mehr geschobenen denn gezogenen Strichen und Linien läßt den gemeinten Gegenstand neu entstehen. kaum eine Linie, die Räume trennt oder Grenzen zieht. Keine, die beschriebe oder Umrisse zeigte, also über sich hinaus auf etwas anderes verweisen würde. Nicht, daß es hier nun darum ginge, (doch nur) das Sichtbare wiederzugeben, ein schlichtes Ergebnis (der Natur) zu wiederholen ("natura naturata"). Die den Dingen eigene, innere Gesetzlichkeit ("natura naturans") gilt es nachzuspüren und sichtbar zu machen. Die Striche selbst werden zum Organismus, zu dem Gegenstand, der nicht bloß "abgebildet", sondern, als Zeichnung, neu geschaffen wird, eine zweite Existenz erhält. Eine Existenz, die zunächst von prägnanter Schärfe geprägt wird, genauso aber Unschärfen bereithält und zuläßt wodurch die rein intellektuelle Betrachtung um eine emotionale Erfahrung bereichert wird. Dies, wenn man ihn mit entsprechendem Abstand betrachtet. Die Nahsicht verklärt den Blick selbst aufs Detail, verschärft aber den Blick auf das "Gewebe", auf die die Zeichnung konstituierende Struktur, das "Prinzip Zeichnung" von Reiner Schwarz. Ein Gewebe aus schwarzen Stricheleien, die, überlagert von farbigen Hinweisen und weißen Höhungen, in keinem Moment das Auge des Betrachters zu täuschen suchen, sondern immer Zeichnung bleiben und sein wollen. Die Faszination der Zeichnung als Zeichnung, ihre klare Nachvollzieh- und Überprüfbarkeit, wird hier am deutlichsten. In diesem Wechselspiel von Nah- und Fernsicht stehen diese Zeichnungen der Malerei sehr viel näher als typischeren eher linearen Zeichnungen. Das so "Gebildete" ist eben kein Stellvertreter der abgebildeten Wirklichkeit, sondern eigene Wirklichkeit, die aus Kohle auf Papier zusammengesetzte. Reiner Schwarz zeichnet (vorwiegend) auf unbehandeltem Packpapier aus der DDR, welches sich nicht nur durch den warmen, leicht nachdunkelnden hellbraunen und, bei entsprechender Beleuchtung, mal grauen bis goldenen Ton auszeichnet. Die Besonderheit dieses Papiers liegt vor allem in seiner Gröbe und Unregelmäßigkeit. Gepreßt aus verschiedensten Materialien, finden sich darin Einschlüsse noch lesbarer Textschnipsel, glitzernder Aluminiumfetzen oder sogar Holzstückchen. So wird das Papier immer uneben und wellig bleiben. Zu große oder zu schwere Stücke fallen gar heraus und hinterlassen Löcher, die wiederum der ursprünglichen Bestimmung des Papiers entgegenwirken: Packpapier soll umhüllen, einpacken, ja verstecken. Dieses Papier nun breitet Schwarz aus und erreicht zum Teil Formate, die selbst für Malerei groß wären. Er benutzt es als Projektionsfläche, gibt auch ihm eine zweite Existenz. So wird das Papier zum perfekten Zeichengrund für Schwarz neue Sichten und kann folglich auch für sich selbst stehen, wenn der Bildraum hinreichend geklärt ist. Darüber hinaus erleichtert Schwarz mit derartigen "Leerstellen" dem Betrachter die Möglichkeit, die Zeichnung für sich selbst zu vervollständigen, sie verstärkt aus auch eigener Sicht weiter zu sehen und für sich zu entdecken. Das typisch "Fragmentarische" (5) einer lockeren, linearen Zeichnung im formalen Sinn überträgt Schwarz in diese Leerstellen. Zweimal dasselbe Glas, dieselben Blumen. Einmal auf spiegelndem Boden vor einem unruhigen Hintergrund, der nicht eindeutig geklärt werden kann. Und einmal ohne weiteres auf dem Papier, im Raum des Papiers, der zwar durch die Räumlichkeit der Blumen selbst definiert wird, aber auch durch die Beschaffenheit des Papiers alles andere als eine gleichmäßige Fläche bereits spürbar ist. Die in den bezeichneten Raum gestellten Blumen müssen sich gegen einen fast übermächtigen Hintergrund behaupten, werden durch zurückgenommene Binnenzeichnung freier und, wie vor allem die rote, leuchtender. Die Situation aber, in der sie stehen, ist trotz aller Unklarheit eine bestimmte, aus der das Ensemble nicht zu lösen ist, zu groß erscheint die Abhängigkeit. Sie sind ohne ihren eigenen Raum nicht denkbar. Die "freien" Blumen dagegen haben eine wesentlich deutlichere Binnenzeichnung, besitzen ein stärkeres Innen- leben, in den Blüten (hier mehr Schwarz) wie im Glas (hier mehr Weiß, mehr Rot). Sie sind selbstbestimmter, eigenständiger und leichter in einen "eigenen" Raum zu denken, sind "kompatibler". Mit neu verstandenen Zeichnungen auf in seiner Funktion umgedrehtem Papier in bisweilen ungewöhnlich erweiterten Formaten und unter bedenkt man die große Präzision trotz der leicht verwischbaren Kohle somit erschwerten Bedingungen zeigt Reiner Schwarz Entleertes und Verbrauchtes, Ausrangiertes oder Stillgelegtes, im Moment nicht Benutztes, nicht Benutzbares. Gelöst aus der gewohnten Umgebung, isoliert aber offen, offen für eine Integration in einen neuen Kontext, in neue Bezüge, gedankliche wie emotionale, tritt der bis dahin dominierende, wenn nicht einzige, funktionelle Aspekt der Gegenstände zurück. Schwarz läßt sie in dieser Un-Funktion, in der keine Pflicht (mehr) ruft und auch die Zeit nicht (mehr) drängt. So ermöglicht er seinen von äußeren Zwängen befreiten Gebilden, ihre (ur-) eigene, bislang so nicht erkannte Qualität zu entdecken, entdecken zu lassen. Es entsteht Raum für eine sinnliche Wahrnehmung, das Gebildete kann eine (neue) Beziehung zum Menschen oder, besser: der Mensch kann eine (neue) Beziehung zu ihm aufnehmen. Weder das Schöne wird ästhetisiert noch das Häßliche, auch das Normale nicht. Oft ist es das Belanglose, manchmal das Besondere. Reiner Schwarz lenkt den Blick auf das Besondere im Alltäglichen und macht das Belanglose zum Besonderen. Wie weit das gehen kann, zeigt er eindrucksvoll mit den Etappen seines Lebenszyklus. Auch hier erscheinen vergangene, veraltete Gegenstände, er holt sie wieder und er wiederholt sie. Nicht nur verdoppelt, sondern vervierfacht wird der Blick auf jeweils ein Gebilde, eine Sitzgelegenheit, eine Körper-Stütze, den Menschen eben Tragfähiges. Viermal der gleiche Blick auf denselben Sessel, und trotzdem bietet er vier Ansichten, vier Sichtweisen, "Mutationen". So wird er einmal zum freundlich leichten Kuschelplatz, dessen Zerbrechlichkeit allerdings zur Vorsicht mahnt, um kurz darauf mit dem Eindruck fast heimtückischer Gebirgsschluchten mit vor allem in den Ritzen ungeahnten Tiefen zu drohen. Dieser Sessel will nicht mehr besessen werden, zu selbstbewußt tritt er uns gegenüber. Er will nicht mehr tragen, er will getragen werden und seine Geschichte erzählen. Aus beiläufig wirkender Sicht, von drei Seiten beschnitten und in freundlichen Farben gezeigt, lädt ein Gefährt eher zum harmlosen Spielen, wenigstens zum Schieben, ein, man selbst sieht es mit den Augen eines Kindes. Doch im nächsten Moment entpuppt sich die wahre Gestalt des Gerätes: quer in den Weg gestellt und deutlich näher gerückt steht die Totenbahre vor einer alles begrenzenden schwarzen Mauer. Bisher mag der Weg, wie die Zeichnung, offen, selbstbestimmbar, gewesen sein, hier jedoch ist Schluß, für alle und endgültig. Die Farbe ist raus, die Bleiche des Todes zeigt sich bereits in den Rädern und scheint sie endlich antreiben zu wollen. Ist die eine Totenbahre noch eher ein beschauliches Objekt, beginnt die andere sich bereits in zeichnerische Formen aufzulösen. Der realistische Aspekt tritt deutlich zurück, formal graphische Strukturen dominieren die Empfindung. Noch harmlos der leichte Einstieg von unten, zarte Räder mit leichten Speichen. Doch von vorn und von oben wird man vom tiefen Schwarz und den alles versperrenden schweren Streifen in das Gitter der von den weißen Höhungen verschärften und sich überIagernden Linien der Speichen gedrückt, man fühlt sich ausweglos gefangen. So, wie Reiner Schwarz das Bewußtsein für das von ihm Geschaffene und Dargestellte zu verändern und zu erweitern sucht, so verändert und erweitert er seine gewählten Mittel künstlerischen Gestaltens: Schwarz definiert seine Technik, seine Mittel, seine Formen und Formate mit derselben Konsequenz, mit der er zeichnet. Nachdem Reiner Schwarz sich das Medium Zeichnung derart umgedeutet und verändert hat, hat er recht, wenn er meint, kein Zeichner zu sein. Aber was für keiner! Jens Hoffmann
(1) Wolf Stubbe: Geschichte der
zeichnerischen und druckgraphischen Techniken, in: Das goldene
Buch der Graphik, Braunschweig 1974, S. 6. |
Die Schubkarre 1992 Der Leimtopf von Olaf Lemke 1994 Das Auto 1988 Stilleben auf Werkbank, I 1992 Stilleben auf Werkbank, II 1993 Die große Papaya 1992 Der große Salat 1991 Rote Beete 1995 Lebenszyklus: Teerkarren 1989 Mohn 1996 Mohn 1996 Lebenszyklus: Handwagen 1990
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